Das Lektoratsgutachten. Die verkannte Chance
In diesem Blog ist das Lektoratsgutachten bereits mehrfach als eine recht preiswerte Möglichkeit erwähnt worden, die Qualität eines Textes »als Ganzes« zu analysieren. Der Fokus liegt also weniger auf stilistischen Schwächen, als viel mehr auf der Dramaturgie, der Fähigkeit, Leser zu packen und bei der Stange zu halten. Ich habe in den letzten Jahren für einige befreundete Verlage solche Gutachten erstellt. Im Bereich des freien Lektorats für Selfpublisher scheint der Begriff des Lektoratsgutachtens noch nicht geläufig zu sein, wie ich immer wieder aus Anfragen ersehe. Deshalb etwas detaillierter, was man erwarten darf – und was nicht.
Das Wichtigste vorweg: Wenn sich ein Verlag dazu entschließt, ein Lektoratsgutachten anfertigen zu lassen, dann hat der Text bereits die wichtigste Hürde genommen. Man hält ihn für gut genug, veröffentlicht zu werden. Der stilistische Feinschliff ist im wahrsten Sinne des Wortes Formsache, die Handlung weiß zu überzeugen, auch sonst entspricht das Buch durchaus dem, was sich der Verlag erwartet. Nur: Erfüllt der Text die Erwartungen wirklich? Wie steht es mit seiner »Marktgängigkeit«, enthält er dramaturgische Schwächen?
Vieles hängt von diesem Gutachten ab, denn die Plätze im meist halbjährlichen Verlagskatalog sind knapp. Und so kann es passieren, dass ein Titel nur deshalb dort nicht erscheint, weil es an einem, vielleicht insgesamt unwesentlichen Punkt Bedenken gibt, die sich bei einem Konkurrenztitel nicht zeigen. Gut für diesen, schlecht für den eigenen Titel …
Wie gesagt: Dies sind die Bedingungen, die Verlage an solche Gutachten stellen. Biete ich sie als freier Lektor an, erfüllen sie eine andere Funktion und ich muss sie entsprechend modifizieren. Sie erläutern dem Autor, wo er nacharbeiten sollte. Normalerweise fällt dieser Aspekt meiner Arbeit unter den zweiten Lektoratsdurchgang und steht an, wenn die stilistische Seite geklärt ist. Was aber, wenn man ein solches Gutachten gesondert offeriert, also nicht im Prozess eines Voll-Lektorats?
Sagen wir es klar und deutlich: Ein Lektoratsgutachten kann ein solches Voll-Lektorat nicht ersetzen, ist aber immer noch wesentlich besser als gar kein Lektorat. Es legt quasi die Finger auf die Wunde, überlässt deren Versorgung jedoch dem Autor. Für den wird somit ein fachkundiger Blick auf sein Manuskript nicht zur unerschwinglichen Investition. Sind bei einem kompletten Lektorat mit 5-8 Euro pro Normseite zu rechnen, schlägt ein Lektoratsgutachten deutlich günstiger zu Buche, oft genug wird ein Pauschalpreis berechnet, der ungefähr zwischen 35 und 40% der Kosten für ein Voll-Lektorat liegt.
Was tue ich für mein Geld? Nun, ich lese den Text so, wie ich jeden Kundentext lese. Langsam, konzentriert, mit eingeschalteter Änderungsverfolgung und einem griffbereiten Notizblock, um mir die allgemeine Struktur aufzuzeichnen. Im Gegensatz zum Voll-Lektorat wird Ihr Worddokument jedoch kein Schlachtfeld von Korrekturen und Anmerkungen. Ich schwebe quasi über dem Text und betrachte mir seine Umrisse. Wie steht es mit der stilistischen Umsetzung? Stimmt der Ton? Tut er das nicht, notiere ich mir genau, wie er geändert werden sollte, und begründe es auch. Schwerpunkt ist jedoch die Dramaturgie. Bleibt Ihr Text spannend, entwickeln sich Handlung und Figuren? Und nein, »Spannung« ist kein Vorrecht für blutrünstige Thriller. JEDER literarische Text braucht Spannung, denn nur sie weckt die Neugierde des Lesers. Untrennbar damit verbunden ist der Begriff der »Entwicklung«. Wenn Ihr Protagonist am Ende noch derselbe ist wie am Anfang, ist der Text in aller Regel gescheitert.
Als Summe meiner Bemühungen verfasse ich nun das Gutachten, einen ausführlichen und kritischen Text, der nicht selten über 10-15 Normseiten geht, die Schwächen auflistet und Möglichkeiten aufzeigt, sie zu beseitigen. Aber Achtung, nicht für jeden ist diese Form des Lektorats geeignet! Anfänger sollten sie nur nutzen, wenn sie bereit sind, das Ganze vor allem als einen Lernprozess zu sehen und nicht als bequeme Dienstleistung! Denn genau das ist der Knackpunkt: Ein Lektoratsgutachten verringert nicht den Aufwand, sondern vermehrt ihn, es verlangt die Lernbereitschaft des Autors.
Während das Voll-Lektorat immer auch dialogischen Charakter besitzt, Lektor und Autor also Änderungen und Kritik ständig kommunzieren, fällt dies beim Gutachten aus. Für mich als Lektor bedeutet dies: Ich muss meine Analyse so formulieren, dass sie für den Autor quasi »selbsterklärend« ist und ihm die Möglichkeit gibt, meine Kritik nachzuvollziehen und meine Anregungen umzusetzen. Deshalb bringe ich stets konkrete Beispiele, vor allem dann, wenn sich eine Schwäche durch den gesamten Text zieht – und das tut es nicht selten, vor allem bei Dialogen, stilistischen Unreinheiten und einer gewissen Neigung zur Weitschweifigkeit oder, en contraire, bei dem nonchalanten Hinwegschreiten über notwendig werdende Erläuterungen, die nicht als »Info-Dump« daherkommen. Man sieht: Ein weites Feld.
Das mit Hilfe des Gutachtens optimierte Manuskript kann nun, wenn es gewünscht wird, noch einmal im Rahmen eines Voll-Lektorats geprüft werden. Dass ein Teil der bisherigen finanziellen Aufwendungen angerechnet wird, sollte selbstverständlich sein. Denn im Normalfall hat der Lektor jetzt weniger Arbeit als vor dem Gutachten …
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Ich finde es schade, dass die Möglichkeit hier nicht genutzt wird.