Die Mär vom perfekten Lektorat
Es ist schon ein Skandal. Da zahlt man diesem Lektorenpack viel Geld – und dann liefern sie keine perfekte Arbeit ab! Perfekt wäre es, wenn ich den lektorierten Text einem anderen Lektor übergebe und der ihn mir mit der Anmerkung »Ist schon perfekt, kann ich nichts mehr verbessern« zurückschickt. Aber genau das passiert nicht! Der zweite Lektor ändert Dinge, die der erste nicht moniert hat, ein dritter korrigiert den zweiten und ein vierter den dritten und so weiter bis in alle Ewigkeit, und das alles auf meine Kosten. Ist doch nicht normal.
Doch. Natürlich kann ein lektorierter Text »Fehler« enthalten, solche im Logischen oder Dramaturgischen oder im Grammatischen etwa, doch ein literarischer Text lebt von Sprache – und die ist alles andere als ein von ehernen Regeln gezähmtes Haustier. Selbst dort, wo Regelwerke eindeutige Anweisungen erteilen, im Duden etwa, gibt es eine gewisse Variabilität, die sich nicht auf »Phantasie« oder »Fantasie« beschränkt. Aber dies nur nebenbei. Kommen wir zum Kern dessen, was Lektoratsarbeit bedeutet: ein Arbeiten am STIL.
Sprache ist weder gut noch schlecht, diese Träume sind selbst in den Lehrerzimmern humanistischer Gymnasien längst ausgeträumt. Sprache, zu Stil geronnen, ist das Vehikel, mit dem ein Autor seine Geschichte und Absichten so an den Leser bringt, wie es ihm vorschwebt. Ich nenne das den »Sound« eines Textes, die Melodie, auf der er dahingleitet, wobei es nicht nur auf den Inhalt selbst ankommt, sondern auf die Atmosphäre, die ein angemessener Stil immer vermitteln sollte, das, was man früher »zwischen den Zeilen« nannte.
Um diesen Sound als Lektor zu hören, muss ich mich in einen Text einlesen. Meistens bedarf es nur weniger Seiten, um zu erkennen, wohin die Reise gehen soll. Man schaut sich die Erzählperspektive, die Erzählzeit, den Charakter der Erzählfigur an, verkoppelt sie mit der Handlung und gewinnt so einen ersten Eindruck von dem, was der Autor plant. Wenn er überhaupt etwas plant. Oft genug nämlich hat ein Text überhaupt keinen Stil, alles wirbelt kunterbunt durcheinander, einziges Ziel scheint es zu sein, Handlungsinformationen weiterzuleiten. Das aber ist vielleicht eine Gebrauchsanweisung für Waschmaschinen, aber keine Literatur.
Mein oberstes Ziel als Lektor muss es sein, den Stil / Sound des Textes, so wie ihn sich der Autor wünscht, zu wahren. Hat man diesen Sound erst einmal festgestellt, merkt man mit einiger Erfahrung recht schnell, wo es hakt. Noch einmal: Das Ganze hat nichts, überhaupt nichts mit »gut« oder »schlecht« zu tun. Selbst schiefe Bilder oder holprige Vergleiche können Teil des Sounds sein (obwohl sie es selten sind). Je weiter ich lese, desto genauer spezifiziert es sich. Ist der Text vielleicht ironisch gemeint, eine Groteske? Welche Funktion haben kurze / lange Sätze, wie spiegeln sie z.B. die psychische Situation der Erzählfigur wider? Gibt es möglicherweise einen Punkt, an dem sich die Strategie / Situation dieser Instanz ändert und deshalb der bisher stimmige Sound nicht mehr passt, also modifiziert werden muss?
Kurz: Wenn ich diesen Sound erkennen und optimieren möchte, muss ich mich in einen Text eingraben. Es ist Unsinn, schon gleich nach dem Lesen von ein, zwei Sätzen stilistische Änderungen vorzunehmen. Beginnt ein Text mit »Ich erwachte, stand auf, trat ans Fenster«, dann mögen meinetwegen sämtliche Schreibratgeber dieses Universums anraten, solch ein Anfang sei ein No-Go. Muss es nicht sein. Ähnlich verhält es sich mit sogenannten Füllwörtern, Adjektiven, Schachtelsätzen und vielen anderen verfemten Elementen. Sie sind entweder notwendige Teile des Sounds – oder sie sind es nicht.
Man merkt schon: Hier haben wir längst den Punkt erreicht, an dem nicht mehr »Perfektion«, sondern »literarische Stringenz« angestrebt werden muss. Sprache, vor allem literarische, ist so flexibel, dass niemals nur ein Weg der absolut richtige sein kann. Lektor A. erkennt Sound A, Lektor B. vielleicht Sound B – und beide können recht haben und gute Arbeit abliefern. Sie ist dem Text angemessen, einheitlich und konsequent, es sind unterschiedliche Wege, die zu einem Ziel führen: Einem literarischen Text, der die Vorstellungen des Autors erkennt und optimiert.
Neulich las ich in einem Autorenforum, man solle doch, um die Spreu vom Weizen zu trennen, bitteschön »lektoriert« aufs Cover drucken, als eine Art Qualitätslabel gewissermaßen. Dahinter verbirgt sich eine geradezu naive Vorstellung von erstens der Arbeit der Lektoren-Götter, zweitens dem Wesen des Lektorats selbst, und drittens wird stillschweigend vorausgesetzt, ein lektorierter Text sei zwangsläufig »besser« als ein unlektorierter. Nein. Ist in vielen Fällen wohl so, aber manche Texte hätten besser nie ein Lektorat gesehen, das ihnen die Kanten glättet und sie in ein 0815-Schema presst.
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Hat dies auf defms rebloggt.