Roman-Arbeitstagebuch, dritter Eintrag. Relative Zeiten
Ein Roman hat immer zwei Geschwindigkeiten: die, in der er geschrieben, und die, in der er gelesen wird. Diese Geschwindigkeiten differieren in der Regel, denn selbst der schnellste Schreiber ist dem Normalleser unterlegen. Das Ergebnis kann eine Sinnestäuschung sein, die nämlich, dass ich als Autor das Tempo, in dem ich meine Geschichte ausbreite, falsch einschätze und damit eine dritte Geschwindigkeit verpfusche, die der Handlung nämlich.
Nehmen wir als Beispiel mein aktuelles, kürzlich in der Rohfassung fertiggestelltes Manuskript. Es umfasst 320 Seiten, die in 19 Kapitel unterteilt sind, diese wiederum in durchschnittlich fünf bis sechs Unterkapitel (mit Sternchen voneinander getrennt), die abwechselnd an drei verschiedenen Orten mit jeweils festem Personal spielen. Bereits an diesen groben statistischen Angaben erkennt man, dass es sich um einen »schnellen Text« handeln muss. Schnell heißt: Ständiger Perspektivwechsel, der Erzähler steckt abwechselnd in sechzehn Gehirnen, die die jeweiligen Ereignisse wahrnehmen und kommentieren.
Aber was heißt »schnell«? Tempo ist abhängig von dem, was getan wird – oder nicht getan wird. In diesen mehr als 100 Unterkapiteln könnte etwa überwiegend gegrübelt, beobachtet werden, dann wäre die Geschwindigkeit der Abfolge bei der Erzählperspektive relativ unerheblich. Tatsächlich entscheiden die Handlungsorte, wie die Geschichte vorangetrieben wird. Zwei der drei Orte sind räumlich eingegrenzt: ein Raumschiff mit zwei Personen, die mehr denken als tun, eine Mondbasis, in der sich Tun und Denken die Waage halten. Lediglich der dritte Ort, die Erde, erlaubt ein »Action«-Setting. Der Protagonist bewegt sich, er gerät in immer neue Situationen mit wechselndem Personal.
Was ich bisher umrissen habe, ist die HANDLUNGSGESCHWINDIGKEIT. Schneller Perspektivwechsel, die Geschichte selbst mal schnell, mal langsam, was auf den Charakter des Tuns / Denkens zurückzuführen ist. Wie aber verhält es sich mit der SCHREIBGESCHWINDIGKEIT? Nun, selbst für meine Verhältnisse war ich bei diesem Roman überraschend schnell, täglich zwischen sieben und sechzehn Seiten, also im Mittel über zehn – und das Tag für Tag, ohne Unterbrechung. Überraschend deshalb, weil gerade dieser Text eine aufwendige Recherche erforderte. Dieses Tempo hatte sehr wenig mit der Handlungsgeschwindigkeit zu tun, eine schnelle Passage wurde also nicht zwangsläufig schnell verfasst und manche, die das Tempo aus der Handlung herausnimmt, entstand »wie im Flug«. Auf jeden Fall gibt es eine Differenz zwischen den bisher besprochenen Geschwindigkeitsarten.
Aber es gibt ja noch eine dritte, die LESEGESCHWINDIGKEIT. Nehmen wir an, ein Normalleser schafft pro Stunde 30 Seiten. Er nimmt also in dieser Stunde die Menge Text auf, für die ich drei Tage gebraucht habe. Was bedeutet das? Für den Leser: nichts. Für mich als Autor aber eine ganze Menge. Natürlich kann ich die Lektüregeschwindigkeit in Maßen steuern. Eine actionreiche Passage liest sich schneller als eine, in der über die Natur des Universums nachgedacht wird. Diese Möglichkeit der Steuerung ist jedoch begrenzt, da ich ja nicht jeden meiner Leser persönlich kenne und seine Lesepraktiken nachvollziehen kann.
Etwas anderes jedoch ist in diesem Zusammenhang wichtiger: die Gefahr der Selbsttäuschung des Autors. Ich brauche nun einmal viel länger zum Schreiben als der Leser zum Lesen und kann aus diesem Grund gar nicht wirklich abschätzen, ob die Handlungsgeschwindigkeit der Handlung, so wie sie der Leser wahrnimmt, auch angemessen ist. Darüber entscheidet nämlich letzten Endes der Leser selbst. Es gibt Passagen in diesem Text, die nur einige Zeilen ausmachen und über die der Leser wahrscheinlich in Sekundenschnelle hinwegliest. Als Autor haben sie mich jedoch eine Menge Zeit gekostet, wenn ich z.B. über die Schwerkraft in Inertialsystemen recherchieren musste. Hier klaffen also alle drei Zeiten auseinander und dies kann zu der Selbsttäuschung führen, der Text würde sich »verlangsamen«, obwohl er das in Wirklichkeit gar nicht tut.
Aus diesem Grund missachte ich die »goldene Regel«, einen Text nach Fertigstellung erst einmal beiseitezulegen, um Abstand zu gewinnen. Sobald der Text beendet ist, schlüpfe ich in die Rolle des Lesers. Ich verhalte mich so, wie man sich nun einmal verhält, wenn man einen Text liest. Korrigiert werden nur offensichtliche Schreibfehler oder ungelenke Formulierungen, die mir ins Auge springen und körperlich wehtun. Ansonsten achte ich nur auf die Handlungsgeschwindigkeit oder, mit einem anderen Wort, auf die DRAMATURGIE, so wie sie der wirkliche Leser später in seiner eigenen Geschwindigkeit erlebt. Nur so erkenne ich Schwächen des Textes. Wenn ich mit der Lektüre fertig bin, lege ich den Text beiseite, eine Woche, zwei Wochen, dann mache ich mich an die Überarbeitung. Und dafür lasse ich mir dann alle Zeit, die notwendig ist.
P.S. Wenn es jemanden interessiert, wie es mit diesem Roman weitergeht, empfehle ich die kürzlich eingerichtete Facebook-Seite.
- Veröffentlicht in: Uncategorized