Roman-Arbeitstagebuch, zweiter Eintrag. Das Genre, Dichtung und Wahrheit
Was passiert, wenn eine Atombombe in unmittelbarer Nähe eines Asteroiden explodiert? Okay, es macht nicht »bäng!«, das weiß ich auch ohne Google. Wie wirkt sich die verminderte Schwerkraft des Mondes auf körperliche Arbeit aus? Erleichterung oder Erschwernis? Wie ist es überhaupt mit der Schwerkraft? Kann man sie künstlich erzeugen (ja) und hat sie möglicherweise unangenehme Folgen (auch ja)?
Man merkt es schon: Der Herr schreibt einen Science-Fiction-Roman. Er tummelt sich in einem Genre, das nicht sein natürliches ist, aller Crime-Elemente ungeachtet. Aber welche Fachkenntnisse braucht man überhaupt, um sich in einem Genre ohne Peinlichkeit auszubreiten? Stimmt die naheliegende Gleichung »Je mehr Kenntnisse, desto besser das literarische Produkt«?
Bleiben wir beim Krimi. Etwa 90 % der Polizeiromane, die ich in den letzten Jahren gelesen habe – und es waren schon einige -, würden jedem Experten die Haare zu Berge stehen lassen. Die meisten der verbeamteten Protagonisten hätten längst ein Dienstaufsichtsverfahren am Hals oder wären fristlos entlassen worden, da wird am Tatort geschludert, Zeugen werden unter Druck gesetzt und man hat allgemein den Eindruck, eine Pistole und ein Revolver seien lediglich Synonyme ein und dieselben Sache. Dennoch: Kaum jemand beschwert sich darüber und in puncto Spannung und Dramaturgie gibt es unter diesen »unsachgemäßen« Werken durchaus einige, die man mit Genuss liest. Andererseits: Es schreibt nicht jeder Experte so tolle Krimis wie mein Kollege Norbert Horst, der die Arbeit einer Kripo aus eigener Praxis kennt. Meistens stimmen die Fakten – aber das Ding ist todlangweilig, eben weil die Fakten eines Polizeialltags so langweilig sind.
Schwieriger noch ist es bei der Science Fiction. Hier liegt das Problem schon in der Genrebezeichnung, der Verbindung von »exakter« Wissenschaft und Fiktion.
Zwischen der »Hard Science Fiction« eines Brendon X. Morris und den Space-Opera-Werken von Cliff Allister zum Beispiel liegen wissenschaftliche Welten, die dennoch nichts über die Qualität oder die Glaubwürdigkeit eines Textes aussagen. Entscheidend ist die »Binnenlogik«. Was bedeutet das? Nun, die etwa in einem Roman geschilderten Phänomene müssen der Welt entsprechen, wie sie im Text gezeichnet wird. Jemand wie Harry Potter wäre in einer Umgebung, die ein naturwissenschaftlich exaktes Bild unserer Gesellschaft zeichnen soll, völlig fehl am Platze. In einer anderen jedoch, deren Gesetze Zauberei zulassen, nicht. Und WELCHE Gesetze in einem Roman gelten, das entscheidet – der Autor.
Ein konkretes Beispiel aus – Tata, ich verrate jetzt den Titel – »Die Verlorenen des Mondes«: Wesentliche Teile des Romans spielen in einer Mondbasis und einem Raumschiff, das die Erde umkreist. Die dort agierenden Personen wären also der »Schwerelosigkeit« ausgesetzt, die ich aber aus dramaturgischen Gründen vermeiden möchte. Also künstliche Gravitation. Die wäre mit Einschränkungen durch Nutzung der Zentrifugalkräfte möglich, Basis und Schiff müssten dazu rotieren. Das gefällt mir auch nur bedingt. Also musste ich etwas »erfinden«, das einerseits nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, andererseits jedoch wissenschaftlich noch so wenig erforscht, dass ich meiner Fantasie freien Lauf lassen kann. Das Ergebnis: Gravitonen.
»Als Graviton bezeichnet man das hypothetische Eichboson einer Quantentheorie der Gravitation. Dieser Annahme zufolge ist es der Träger der Gravitationskraft.«
So verrät es uns Wikipedia und auch, dass man sehr wenig, so gut wie nichts, über dieses Ding weiß. Aber es existiert. Nun bin ich kein Physiker, der eine halbwegs vernünftige Erklärung daran knüpfen könnte. Ich bin Autor. Ich schreibe im Grunde einen Kriminalroman mit mehreren Handlungsebenen, die allesamt in der Zukunft liegen. Meine größte erzählerische Waffe ist Spannung, Spannung jedoch braucht das Geheimnis. Also integriere ich das Graviton in dieses Netz des Mysteriums, ich muss also gar nicht erklären, was es konkret damit auf sich hat (könnte ich es, wäre mir der Physiknobelpreis gewiss, aber bei mir reicht es nicht einmal zum Literaturnobelpreis), sondern arbeite mit einer Wirkung (zwei Gravitonen sind in der Lage, sobald man sie in ein Vakuum steckt, Schwerkraft zu erzeugen), deren Ursache im Ungewissen bleibt. Dieses Ungewisse wird, wie es bei Spannungsliteratur allgemein üblich ist, zum Antriebselement des Erzählten. Apropos Antrieb: Ein ähnliches Problem gibt es auch bei der Frage, wie ein Raumfahrzeug ohne Trägerrakete der Erdanziehung entkommen kann. Ionenantrieb? Nein, funktioniert NOCH nicht. In meinem Roman funktioniert es aber …
Aber kommen wir zurück zum Allgemeingültigen. Jedes Genre funktioniert nach seinen eigenen Gesetzen. Seine Logik ist immanent. Und es hängt vom erzählerischen und gestalterischen Potenzial des Autors ab, inwieweit ihm dabei ein Werk gelingt, das nicht nur reine Fantasie ist, sondern auf seine Weise ein Bild von der Wirklichkeit zeichnet. So kann aus Dichtung Wahrheit werden, obwohl die »nüchternen Fakten« nicht denen entsprechen, die wir einer »realistischen Wahrheit« zugrunde legen … Umgekehrt funktioniert es übrigens genauso. Wer sich akribisch an das hält, was als »faktisch« und »wissenschaftlich erwiesen« gelten kann, hat noch lange keine Garantie dafür, dass die Welt, die er in seinem Text ausbreitet, wahrhaftig genannt werden kann. Im Grunde ist Literatur also nichts anderes als ein Graviton. Sie existiert, sie tut irgendetwas, aber niemand weiß genau, wie.
P.S. Die Coverabbildung ist vorläufig.
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