Was ist eigentlich »ein gutes Buch«?

Die meisten von uns kennen das. Man sitzt, noch ein Dreikäsehoch, in der Ecke und heult, weil die anderen Insassen des Kindergartens nicht mit einem spielen wollen. Fräulein Elfriede eilt herbei und streichelt zärtlich über den traurigen Kindskopf. »Warte nur ab, bis die rausfinden, dass du auch deine guten Seiten hast. Dann wollen alle mit dir spielen.«


Und heute, wir sind längst stolze Selfpublisher geworden, holt uns die Vergangenheit wieder ein. Alles Mögliche wird gekauft, nur unser Buch nicht. Es liegt wie Blei in Amazons virtuellen eBook-Regalen und würde weinen, wenn eBooks weinen könnten, also weinen stellvertretend wir, die Schöpfer. Was machen wir falsch? Oder, besser gesagt, was machen eigentlich die Leser falsch, dass sie unser Buch ignorieren? Ahnen sie nicht, was ihnen entgeht? Oder mache ich Autor nur zu wenig Werbung, weil ich mich als Marktschreier beruflich nicht qualifiziert fühle? Denn eines steht doch wohl fest: Das hier ist ein gutes Buch.
Ein gutes Buch. Definiere. Gar nicht so einfach. Beginnen wir mit den Fakten, zu denen es keine Alternativen und daher auch keinen Diskussionsbedarf gibt. Ein gutes Buch ist nicht unbedingt ein erfolgreiches Buch und ein erfolgreiches nicht qua definitionem ein gutes. Ein nicht erfolgreiches Buch ist nicht zwangsläufig gut und ein gutes nicht naturgemäß erfolglos. Kommen wir jetzt zu den Eigenschaften, die man wohl ebenfalls noch abnickt, wenn auch mit einiger Verzögerung. Ein gutes Buch ist wenigstens in erkennbaren Maßen originell, zeichnet seine Figuren präzise, verfügt über eine interessante Handlung und eine intakte Dramaturgie, verwendet eine adäquate Sprache und vermeidet Versatzstücke, unkontrollierten Info-Output, schafft eine für den Leser anregende Atmosphäre, lässt ihnen Raum für eigene Gedanken und arbeitet generell mit allen Möglichkeiten, mehr zu sein als eine Aneinanderreihung von Wörtern. Schön.
Hören wir nun, was Volkes Stimme zu sagen hat. Was ist ein gutes Buch? Ein gutes Buch ist eines, das uns gefällt. Punkt.
Wenden wir uns schaudernd von so viel profaner Leichtigkeit ab und wenden uns der hehren Literaturgeschichte zu, wo sich die guten Bücher auf den Füßen stehen und händeringend (Haben Bücher Hände? Wenn ich will, schon!) auf ihre Leser warten. Eines fällt uns dabei sofort auf. Viele dieser »guten Bücher« waren, als sie erstmals erschienen, »schlechte Bücher«. Das passierte so, als sich die Romantik entwickelte und die Klassik böse schnaubte. Ebenso beim Übergang von der Romantik zum Realismus und vom Realismus zum Naturalismus und vom Naturalismus zum Expressionismus … Oder nehmen wir die »Blechtrommel« von Günter Grass. Als der Roman erschien, war er für viele zunächst einmal ein ordinäres, schmutziges Buch. Heute ist er ein moderner Klassiker, ob einem das nun gefällt oder nicht, auch Henry Miller und Charles Bukowski sind längst keine Dreckferkel mehr und sogar Alfred Döblins »Alexanderplatz« gilt als Meisterwerk. Es geht auch andersrum. Heinrich Böll. Nobelpreisträger. Bücher wie »Das Brot der frühen Jahre«, »Ansichten eines Clowns«. Helden meiner Jugend, als ich mich in die moderne Literatur hineintastete, wahrhaft gute Bücher. Und heute? Engstirniges Katholikengemurmel, die Sprache kaum noch zu ertragen, ein Konzert ödester Bedenkenträger. Schlechte Bücher.
Alles ist relativ, murmelt Albert Einstein, jedenfalls so, wie es sich Leute vorstellen, die die »Spezielle Relativitätstheorie« nie verstanden haben. Will sagen: Geschmackssache. Denn DAS nun ist das Totschlagargument, wenn mir diese ganze Diskussion um gute und schlechte Bücher einfach lästig geworden ist. Was ein gutes Buch sei (wow, mit Konjunktiv! Gut!), das entscheidet der Leser von Fall zu Fall selbst. Hauptsache, die Kommasetzung stimmt und aus den Spaghetti werden keine Spagetti und die Friseusen mutieren weder zu Frisösen noch zu Friseurinnen.
Und der Geschmack ist so eine Sache. Die einen präferieren keine Fremdwörter, die anderen schon. Die einen lieben kurze, die anderen lange Sätze. Die einen wollen sich mit dem Protagonisten identifizieren, die anderen nicht. Die einen haben die Seitenzahlen lieber zentriert, die anderen jeweils außen.
Jetzt wird es chaotisch. Wir haben ganz am Anfang behauptet, ein gutes Buch müsse nicht unbedingt ein erfolgreiches sein, aber genau das passiert. Sobald ich mein Buch in die Top 100, gar die Top 10 der Amazoncharts gehievt habe, wird es von immer mehr Leuten gekauft, weil ein erfolgreiches Buch, das viele andere Leute erworben haben, irgendwie auch ein gutes Buch sein muss, denn sonst hätte es ja wohl niemand gekauft, oder? Vor allem dann, wenn es gute Rezensionen bekommen hat, auch wenn die meisten davon keine sind, sondern sich in Meinungsäußerungen wildfremder Menschen erschöpfen (»Hat mir gefallen, Leseempfehlung«) oder zwar nichts über das  Buch selbst, dafür umso mehr über die intellektuelle Situation des Rezensenten aussagen (»Konnte es nicht auf meinen Kindle ziehen, also nur 1 Stern«).
Manchmal passiert auch Folgendes: Ich greife zu einem Buch, von dem ich genau weiß, dass es schlecht ist, aber ich finde es gerade ziemlich gut für mich, ein schlechtes  Buch zu lesen, eine Pilcher-Schmonzette zum Beispiel, weil ich mich in purem Kitsch zu entspannen gedenke und Musils »Mann ohne Eigenschaften« dafür doch nicht so geeignet ist, obwohl ein gutes Buch. Das heißt: So gut auch wieder nicht, das hat Musil irgendwann selbst gemerkt und nicht mehr weitergeschrieben.
Schweigen wir ganz davon, dass ich, als mich Monika verlassen hat (Name kann beliebig ersetzt werden), plötzlich anfing, Haruki Murakami zu lesen und Nick Drake zu hören, bis mir Carla (Name kann … etc.) über den Weg lief und ich Murakami (Drake sowieso) hasste und mich wieder den guten Büchern von Theodor Storm zuwandte (Storm kann man nur ohne Musik lesen). Sehr verwirrend, das alles. Sollte es am Ende gar nicht möglich sein, Bücher in »gut« und »schlecht« zu unterscheiden? Ja … aber wie kommt man dann zurecht? Wie weiß man, was man kaufen soll?
Nein, das mit dem guten Buch ist nicht so einfach. Wer es sich ganz einfach machen möchte, behauptet halt: Ein gutes Buch ist immer eins, das ich selbst geschrieben und veröffentlicht habe, denn mal unter uns: Würde ich jemals ein schlechtes Buch veröffentlichen? Trauen Sie mir eine solche Torheit zu? Sagen Sie jetzt nichts Falsches.

5 Kommentare

  1. Hat dies auf Nike Leonhard – Fantasy und Historisches rebloggt und kommentierte:
    Was ist ein gutes Buch? Meine Eltern hatten dafür noch sehr genaue Kategorien: Erhaben musste es sein (nicht unbedingt erhebend) und geadelt durch Alter und das Urteil von Menschen, die sich damit auskannten. Klassiker waren gut, Krimis Schund. Fantasy war Spinnerei, während Science Fiction ging, wenn sie nur gut genug abgehangen war.
    Heute ist das schwieriger. Aber um die letzte Frage, bezogen auf meine Bücher, zu beantworten: Ich würde nie eine Geschichte veröffentlichen, die ich für zu schlecht halte, mich zu unterhalten.

  2. Hans Walter Grössinger

    Für mich es ein gutes Buch, wenn es sich nicht sofort in alle Bestandteile auflöst… 🙂

  3. Sehr treffend formuliert … denn über Geschmack kann man nun mal keine Urteile fällen, und wenn es gefällt, ist es eben gut … für den, dem es gefallen hat. Warum das mal mehr und mal weniger Leser sind, ist wohl eines der Rätsel, die einen immer wieder aufs Neue beschäftigen werden … ein Perpetuum Mobile sozusagen … es hört eben nie auf.

  4. Hat dies auf Wer bin ich, bin ich wer? rebloggt und kommentierte:
    Hier hat Verena sehr treffend formuliert, was viele von uns auch oft hinterfragen … lest selbst

  5. Texthase Online

    Herzlichen Dank für diesen Beitrag!

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